Zusammen im Zwischenraum

PODIUM Esslingen, Digitalität, Digitalisierung, Kulturbetrieb, Festival, Musk

Wir gehören zur letzten Generation, die sich vermutlich noch „Analog Natives“ nennen kann. Wir kennen aus unserer Kindheit noch die letzten Jahre einer Welt, in der nicht in jeder Wohnung ein Computer stand und nicht jede Person ein Smartphone besaß. Wir haben als Kinder die Nach­ mittage in Wiesen und Wäldern ge­ spielt und mussten auf dem Festnetz unsere Freund:innen anrufen, wenn wir uns mit ihnen verabreden wollten.

Ironischerweise wurde PODIUM Esslingen – obwohl wir im Kern von einer so analogen Tätigkeit wie der Kammermusik kommen – aus dem Digitalen geboren. Denn eine Gründung wie unsere im Jahr 2009 wäre ohne die Möglichkeiten digitaler Kommunikation undenkbar gewesen. Die Gründungsmitglieder waren über Europa verteilt, hatten noch keinen Namen, aber eine gemeinsame Idee, mit Esslingen am Neckar eine kleine, mittelalterliche Stadt, die unserem Festival-Impuls eine Heimat gab – und wir hatten das Internet. Und das ist die erste bemerkenswerte Eigenschaft des Digitalen: Es kann über Grenzen hinweg Energien bündeln; es kann Gemeinschaften stiften und aktivieren. Noch nie ist es einfacher gewesen, ungefragt etwas zu starten: Gutes und Schlechtes. Oder um es so zu sagen: Ein Streichquartett von Beethoven hat bisher noch nicht die Digitalisierung gebraucht. Wir aber, die wir etwas anfangen wollten, sehr wohl! Die ersten zwölf Jahre von PODIUM – von studentischen Anfängen als Kammermusikfestival bis zur heute entstehenden Plattform für vielfältige Kunstmusik und Innovation – waren und sind geprägt von großer Neugier für digitale Entwicklungen. Daher haben wir drei Gedanken zu Fragen der Digitalität in unserer Arbeit zusammengetragen.

(DIGITALE) ZWISCHENRÄUME



Die Diskussionen, in den analog und digital einander gegenübergestellt werden, haben uns noch nie besonders interessiert. Spannende Fragen entstehen aus unserer Sicht in den Zwischenräumen. Mit Produktionen wie „Strawinsky:animated“ (2013) und „Butterfly Under Glass (2015)“ haben wir schon früh begonnen darüber nachzudenken, wie sich der Bühnenraum durch neue Technologien verändert. Einen ganz anderen digitalen Raum haben wir mit unserem ersten durch die Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekt Henry (2016) erforscht. In seiner eigenen App hat der digitale Musikkurator über serielles und transmediales Storytelling neue Formen der digitalen Veröffentlichung und Kontextualisierung erprobt. Und auch für die Kuration neuer, innovativer Projekte aus dem PODIUM-Kosmos liegt die Herausforderung im Zwischenraum. Einerseits muss es gelingen, ihre Sensoren und Schnittstellen möglichst weit zu öffnen, um Ideen nicht nur aus der eigenen Tradition und gewohnten Abläufen zu generieren. Andererseits gilt es, verlässlich und zuverlässig aus dem Chaos des künstlerischen Möglichkeitsraums aus Ideen Projekte werden zu lassen. Das ist unser Ansatz – und soll es in Zukunft bleiben.

AUTOR:INNENSCHAFT & PARTIZIPATION



Viele Projekte der vergangenen Jahre haben sich auf unterschiedlichen Wegen damit beschäftigt, wie sich Autor:innenschaft im Zeitalter der Digitalität wandelt. Denn je mehr gute künstlerische Ideen in dieser Vernetzung entstehen, desto mehr stellt sich die Frage: Welche Rolle übernehmen die Künstler:innen – abseits des klassischen Genie-Kults? Im Rahmen des Projekts #bebeethoven (2017 - 2021) haben beispielsweise die Avantgarde-Musikerin Holly Herndon und der Technologe Mat Dryhurst eine Künstliche Intelligenz namens SPAWN erschaffen, deren faszinierende Klangäußerungen – eine gelernte Synthese der Stimmen von Herndon und Dryhurst – in die neuesten Bühnenproduktionen und ihr aktuelles Album „PROTO“ einfließen. Die Imperfektion, die Brüchigkeit und die Infantilität der KI erzeugen erstaunlich berührende Klänge. Und so wie Auto-Tune für viele Popkünstler nicht mehr Intonationsstütze, sondern Stilmittel geworden ist, so ist diese bis auf weiteres musikalisch unselbständige KI keine uns überholende Musikmaschine, sondern ein weiteres, fragiles Instrument, mit dem wir Schönes und Verblüffendes erschaffen können.

Und während bei dem Künstler:innen-Duo Quadrature und Holly Herndon bei aller mensch-maschinellen Hybridität scheinbar noch eine klare Urheberschaft erkennbar scheint, so ist diese bei vernetzten künstlerischen Prozessen noch weniger zu identifizieren. #bebeethoven-Fellow Alexander Schubert hat diese immer offener werdende Frage nach Autor:innenschaft in der digitalen Welt gleich ganz zum künstlerischen Gegenstand gemacht. Bei dem Werk „wiki-piano.net“ handelt es sich um eine Webseite, die nach dem Wiki-Prinzip von der User-Community frei bearbeitet werden kann. Die Webseite wird zur Partitur, die ein:e Pianist:in im Konzert in der Version spielt, die am Tag des Konzerts vorliegt – mit aller Vielstimmigkeit und allen Überraschungen. Das Erstaunliche ist, wie gut das Stück jedes Mal als musikalisches Werk funktioniert, obwohl es eigentlich nur eine zufällige und profane Notiz-Sammlung von tausenden Netz-Trollen, Nerds und sonstigen User:innen ist. Die äußerst durchdachte Gestaltung des Interfaces und die allgemeinen Spielregeln der Webseite schaffen eine Struktur, in der sich sowohl digitale Netz-Poesie als auch auch die enthemmte Vertrollung des Internets eindrucksvoll spiegeln, und beweisen: Digitalität ist kein Add-On der Realität, es ist die Realität.

VERANTWORTUNG FÜR DIE POST-DIGITALE GEGENWART



Spätestens durch die Entwicklungen der Pandemie ist uns wohl allen bewusst geworden, dass die digitale Transformation eine revolutionäre gesellschaftliche Entwicklung ist. Und es geht uns in diesem Sinne eben nicht um einen einmaligen Prozess des Digitalisierens, sondern um die künstlerische Gestaltung und die Welt, die nun auch eine digitale Dimension hat – nicht in der Zukunft, sondern hier und heute. Und die vielversprechendste Art, die Zukunft vorherzusehen, ist schließlich die Gestaltung der Gegenwart. Denn eines lässt sich schon jetzt sagen: Das Internet als klar abtrennbarer Raum wird verschwinden, das Digitale löst sich schon jetzt in allem auf – in Geräten, Kleidung, Körpern. Wir können den Herausforderungen und Chancen der post-digitalen Welt nicht durch isolierte Abteilungen, Einzelprojekte oder Apps begegnen. Bei der digitalen Transformation liegt der Fokus auf der Transformation und nicht auf dem Digitalen. Und zu oft wird übersehen: Der Mensch bleibt das Maß. Denn bei aller Künstlichen Intelligenz, bei allen Gadgets und Tools: Am Ende sehnt, träumt, blutet ein Mensch für die Kunst und staunt, wundert, freut sich über die Erfahrung. Und die Fragen werden sein: Gelingt es uns, ausgehend von der Musik, ein positives, selbstbestimmtes Narrativ des Digitalen zu entwickeln und einen optimistischen Handlungsraum zu erobern? Als Kreativschaffende gehört es zu unserer Verantwortung, die digitale Sphäre aktiv zu gestalten und kritisch zu reflektieren – in künstlerischen Produktionen, in der Organisation von Kreativität, der Kommunikation und unserer täglichen Zusammenarbeit. All das sind Fragen, die uns bei PODIUM antreiben und wir sind neugierig, wohin uns diese Fragen noch gemeinsam führen werden!

Text von Julian Stahl und Steven Walter, erschienen im PODIUM Festivalmagazin 2021